Guatemala: Die größte Gefahr droht von der eigenen Familie
In Guatemala ist Gewalt allgegenwärtig: auf der Straße, in Bandenvierteln, in Schulen, und vor allem zuhause. Aus Frust. Im Suff. Zur Erziehung.
Der Kindernothilfepartners Coincidir hat ein Schutzhaus errichtet: „Cedupaz“, das spanische Kürzel für „Zentrum für Friedenserziehung“. Hier finden Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt geworden sind oder denen sie droht, einen Rückzugsort und Hoffnung.
Margarita: Vergewaltigt vom eigenen Bruder


Margarita wollte technisches Zeichnen lernen und dann Architektin werden. Da war sie 15, hatte die neunte Klasse abgeschlossen, einen Plan und die Zukunft in der Tasche – wie sie glaubte. Dann aber lud ihr Bruder sie zum Essen ein, ein wesentlich älterer Mann, der schon lange von den Eltern fortgezogen war. An den Abend erinnert sich Margarita heute so: „Meine Arme und Beine sind eingeschlafen, ich bin bewusstlos geworden, später bin ich in einem Hotelzimmer aufgewacht.“ Wie sich herausstellen sollte, hat ihr Bruder sie geschwängert in jener Nacht, ihr eigener Bruder.
Margarita ist das so passiert, in einer Kleinstadt in der Nähe der Hauptstadt Guatemala-Stadt. Vater und Mutter der 16-Jährigen wissen bis heute nicht, dass ihre Enkeltochter ein Kind ihres Sohnes und ihrer Tochter ist. Und sie sollen es auch nicht. „Ich habe ihnen nur erzählt, dass ich vergewaltigt worden bin“, sagt Margarita: „Ich habe an eine Abtreibung gedacht, aber meine Mutter hat gesagt, ein Kind ist ein Segen.“
Das sagen viele in Guatemala, und fragt man nach ihrer Kinderzahl: „So viele Gott mir gibt.“ In den Augen der Armen gibt er ihnen damit auch Arbeitskräfte und Menschen, die im Alter helfen. Doch Margarita geht nicht mehr zur Schule, sucht irgendwann irgendwas als Arbeit, wenn die Kleine größer ist. Und ihr Bruder ist natürlich auch weg. Architektin? Ausgeträumt.


Margarita hat in ihrer Not Anschluss gefunden bei Coincidir (spanisch: „Gemeinsam wirken“). Das ist eine Hilfsorganisation in der Stadt San Andrés in Guatemala. die sich als Partner der Kindernothilfe um Kinder und Jugendliche kümmert, die Gewalt erleiden oder denen sie droht. Schicksale wie das von Margarita kennen sie hier, sie sind nicht selten, auch wenn der Vergewaltiger kaum einmal der Bruder ist.
Margarita, das Kind mit Kind, malt bei Coincidir, und richtig gut, sie spielt und tobt sich aus – es gibt ja nichts für Kinder in diesen Orten, gar nichts, kaum mal einen Spielplatz, eher ein Autowrack, das spannend ist zu erkunden. Nichts, wenn nicht die Helfer neben allem anderen, was sie tun, regelmäßig dort auftauchten: Für die Kleinen haben sie Luftballons, Hüpfsäcke oder Springseile dabei, mit den Großen machen sie Spiele und Trainings, die die Gemeinschaft stärken. Zurück im Schutzzentrum von Coincidir, sagt Margarita: „Ich habe hier Hoffnung geschöpft.“ Und: „Hier helfen mir viele Leute, darüber zu reden, wie ich die Situation bewältige.“ Pause. „Es ist sehr schwer, gute Gefühle für das Baby zu entwickeln.“ Später wird ein Helfer erzählen, Margarita rede von ihrem Kind als „Mein Virus“. Genau daran arbeiten sie.
Jorge: Der Vater haut drauf


Diana: Meine Buben zu schlagen, war mein größter Fehler
Dass es geht, beweist der Vater von Rosa. „Er reagierte positiv auf die Beratung, hat gelernt, seinen Ärger zu beherrschen, und zeigt kein gewalttätiges Benehmen mehr“, heißt es in einem Bericht. Zuvor hatte man Rosa angesehen, dass sie oft geschlagen wurde.


Im Nebenraum sitzen sieben Kinder, sie sprechen über Gewalt und werden über Selbstschutz aufgeklärt. „Schreien, weglaufen und es jemandem erzählen.“ ist die Devise. Die 10-jährige Fatima weiß, dass „wenn etwas geschieht, sollen wir es nicht für uns behalten, sondern erzählen.“ Mayerli (12) ergänzt: „Wenn wir es jemandem sagen und der nimmt uns nicht ernst, sollen wir zu jemand anderem gehen.“
Die 17-jährige Evelyn, die kurz nach der Trennung ihrer Eltern an Drogen geriet als sie neun oder zehn war, geht zu Coincidir, weil sie hier Rap machen kann. Mit ihrem Sprechgesang will sie Jugendliche erreichen und aufklären, dass es nicht nur Sex, Drogen und Gewalt gibt.


Schutzhaus für Kinder, die Gewalt erfahren haben
Im Freien sind 57 Kinder und Jugendliche, oberflächlich betrachtet, bei einer Art Spiele ohne Grenzen gelandet; tatsächlich aber lehrt man sie gerade Vertrauen, Gemeinsinn und Zusammenhalt. Schön, ihnen beim Leben zuzusehen. Mama Margarita, selbst Kind, stürzt sich ins Leben ihrer Gruppe: lässt sich, wie geplant, rückwärts in Hände fallen, die sie auffangen; balanciert über besetzte Stühle; stemmt Reifen, auf den Schultern anderer stehend.




Von Hubert Wolf
Reporter, Redaktion Rhein-Ruhr, der das Projekt gemeinsam mit Fabian Strauch (Funke Foto Service GmbH) für die WAZ-Kindernothilfe-Weihnachtsaktion besucht hat.
Die Leser*innen der Funke Mediengruppe haben im Dezember 2018 rund 129.000 Euro für den Bau des neuen Schutzhauses gespendet.
