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Schutz für Gewaltopfer (Foto: Fabian Strauch)

Guatemala: Die größte Gefahr droht von der eigenen Familie 

In Guatemala ist Gewalt allgegenwärtig: auf der Straße, in Bandenvierteln, in Schulen, und vor allem zuhause. Aus Frust. Im Suff. Zur Erziehung.

Der Kindernothilfepartners Coincidir hat ein Schutzhaus errichtet: „Cedupaz“, das spanische Kürzel für „Zentrum für Friedenserziehung“. Hier finden Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt geworden sind oder denen sie droht, einen Rückzugsort und Hoffnung. 

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Margarita: Vergewaltigt vom eigenen Bruder

Reportage Guatemala; Foto: Junge Mutter und ihr Kind schauen auf Wand mit Bild (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Margarita, mit 16 schon Mutter, hat im Projekt neue Hoffnung geschöpft (Foto: Fabian Strauch)
Reportage Guatemala; Foto: Junge Mutter und ihr Kind schauen auf Wand mit Bild (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Margarita, mit 16 schon Mutter, hat im Projekt neue Hoffnung geschöpft (Foto: Fabian Strauch)

Margarita wollte technisches Zeichnen lernen und dann Architektin werden. Da war sie 15, hatte die neunte Klasse abgeschlossen, einen Plan und die Zukunft in der Tasche – wie sie glaubte. Dann aber lud ihr Bruder sie zum Essen ein, ein wesentlich älterer Mann, der schon lange von den Eltern fortgezogen war. An den Abend erinnert sich Margarita heute so: „Meine Arme und Beine sind eingeschlafen, ich bin bewusstlos geworden, später bin ich in einem Hotelzimmer aufgewacht.“ Wie sich herausstellen sollte, hat ihr Bruder sie geschwängert in jener Nacht, ihr eigener Bruder.

Margarita ist das so passiert, in einer Kleinstadt in der Nähe der Hauptstadt Guatemala-Stadt. Vater und Mutter der 16-Jährigen wissen bis heute nicht, dass ihre Enkeltochter ein Kind ihres Sohnes und ihrer Tochter ist. Und sie sollen es auch nicht. „Ich habe ihnen nur erzählt, dass ich vergewaltigt worden bin“, sagt Margarita: „Ich habe an eine Abtreibung gedacht, aber meine Mutter hat gesagt, ein Kind ist ein Segen.“

Das sagen viele in Guatemala, und fragt man nach ihrer Kinderzahl: „So viele Gott mir gibt.“ In den Augen der Armen gibt er ihnen damit auch Arbeitskräfte und Menschen, die im Alter helfen. Doch Margarita geht nicht mehr zur Schule, sucht irgendwann irgendwas als Arbeit, wenn die Kleine größer ist. Und ihr Bruder ist natürlich auch weg. Architektin? Ausgeträumt.

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Reportage Guatemala; Foto: Kinder sitzen um ein großes Plakat herum und malen ihre Vorschläge (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
„Die Kinder sind Opfer“, sagt Interiano, „aber wenn sie keine Hilfe bekommen, wiederholen sie das Verhalten, wenn sie erwachsen werden.“ (Foto: Fabian Strauch)
Reportage Guatemala; Foto: Kinder sitzen um ein großes Plakat herum und malen ihre Vorschläge (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
„Die Kinder sind Opfer“, sagt Interiano, „aber wenn sie keine Hilfe bekommen, wiederholen sie das Verhalten, wenn sie erwachsen werden.“ (Foto: Fabian Strauch)

Margarita hat in ihrer Not Anschluss gefunden bei Coincidir (spanisch: „Gemeinsam wirken“). Das ist eine Hilfsorganisation in der Stadt San Andrés in Guatemala. die sich als Partner der Kindernothilfe um Kinder und Jugendliche kümmert, die Gewalt erleiden oder denen sie droht. Schicksale wie das von Margarita kennen sie hier, sie sind nicht selten, auch wenn der Vergewaltiger kaum einmal der Bruder ist.

Margarita, das Kind mit Kind, malt bei Coincidir, und richtig gut, sie spielt und tobt sich aus – es gibt ja nichts für Kinder in diesen Orten, gar nichts, kaum mal einen Spielplatz, eher ein Autowrack, das spannend ist zu erkunden. Nichts, wenn nicht die Helfer neben allem anderen, was sie tun, regelmäßig dort auftauchten: Für die Kleinen haben sie Luftballons, Hüpfsäcke oder Springseile dabei, mit den Großen machen sie Spiele und Trainings, die die Gemeinschaft stärken. Zurück im Schutzzentrum von Coincidir, sagt Margarita: „Ich habe hier Hoffnung geschöpft.“ Und: „Hier helfen mir viele Leute, darüber zu reden, wie ich die Situation bewältige.“ Pause. „Es ist sehr schwer, gute Gefühle für das Baby zu entwickeln.“ Später wird ein Helfer erzählen, Margarita rede von ihrem Kind als „Mein Virus“. Genau daran arbeiten sie.

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Jorge: Der Vater haut drauf

Der zehnjährige Jorge, der Älteste von drei Geschwistern, sei ein „sehr einsames, ängstliches, in sich gekehrtes Kind, das Schwierigkeiten hat, Beziehungen aufzubauen“. Ein Opfer, das die Mitschüler schikanieren, und dem der Vater noch eines draufhaut. „Der Mann ist gewalttätig. Er kommt nach der Arbeit müde und frustriert nach Hause und lässt das an den Kindern aus. Zu Hause haben alle Angst vor ihm.“ Das erzählt uns Saul Interiano, Mitarbeiter von Coincidir. Jorge ist ein typischer Fall, das steht leider fest, darum hat Interiano ihn ausgesucht: In zu vielen Familien hier im Land lauert die Gewalt den Kindern nicht auf der Straße auf, nicht in dunklen Ecken, nicht in Bandenvierteln. Sondern zu Hause. Von den Eltern her. Aus Frust, im Suff. Zur Erziehung der Kinder – natürlich nur zu ihrem Besten ...
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Reportage Guatemala; Foto: Kind hängt Bild auf (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Was die Kinder in ihren eigenen Familien erleben, ist erschütternd (Foto: Fabian Strauch)
Reportage Guatemala; Foto: Kind hängt Bild auf (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Was die Kinder in ihren eigenen Familien erleben, ist erschütternd (Foto: Fabian Strauch)
„Traditionelle, auf Gewalt beruhende Erziehungspraktiken werden von Generation zu Generation weitergegeben. Eltern unterschätzen deren Folgen wie Lernschwierigkeiten oder Traumatisierungen.“ Jorge kommt schon länger ins Zentrum. Er singt hier, er bekommt psychologische und schulische Hilfe. Es gehe ihm besser, schreiben die Helfer. Sie schreiben aber auch dies: „Jeden Tag ist er der Erste im Zentrum und der Letzte, der es verlässt.“
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Für Coincidir steht der Schutz von Kindern, die Gewalt ausgesetzt sind, ganz oben. Und zwar ein Schutz, der nicht endet, wenn das Haus schließt. Wo Kinder auch Hilfe bekommen, zurückzufinden, denn Coincidir hilft ja nicht nur Engeln mit Pausbäckchen. Sondern auch Mädchen und Buben am Rande von Kriminalität oder Drogensucht. „Viele finden solche Kinder verzichtbar, sie fallen schnell aus allem heraus, etwa aus der Schule“, sagt Interiano: „Wir versuchen, sie zurückzuholen.“

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Diana: Meine Buben zu schlagen, war mein größter Fehler

In einem großen, vollen Raum sitzen 39 Frauen im Stuhlkreis und ein Mann. Sie sind aus der ganzen Umgebung gekommen, aus San Andrés, aus El Tejar, aus Parramos und Santo Domingo zu einer Art Fortbildung in gewaltfreier Erziehung. Da hat Sonia gut zu tun, die Psychologin. Schön, dass eine Diana sagt: „Ich habe meine Söhne geschlagen, das war mein größter Fehler.“ Weniger schön, dass eine Carmen sagt, die Bibel rechtfertige Schläge. Ihre eigene Erfahrung bestätige das: „Wenn ich meinem Kind auf die Hand haue, lernt es schneller, als wenn ich etwas nur sage.“ Es ist noch ein weiter Weg bis zum Ziel, Sonia, oder? Dem Ziel, dass sie als „Botschafterinnen der Friedfertigkeit“ in ihre Familien zurückkehren mögen. 39 Frauen und der eine Mann.

Dass es geht, beweist der Vater von Rosa. „Er reagierte positiv auf die Beratung, hat gelernt, seinen Ärger zu beherrschen, und zeigt kein gewalttätiges Benehmen mehr“, heißt es in einem Bericht. Zuvor hatte man Rosa angesehen, dass sie oft geschlagen wurde.
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Reportage Guatemala; Foto: Kind tanzt, andere schauen zu (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Gewaltfreies Miteinander ist im Schutzhaus ganz selbstverständlich (Foto: Fabian Strauch) 
Reportage Guatemala; Foto: Kind tanzt, andere schauen zu (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Gewaltfreies Miteinander ist im Schutzhaus ganz selbstverständlich (Foto: Fabian Strauch) 

Im Nebenraum sitzen sieben Kinder, sie sprechen über Gewalt und werden über Selbstschutz aufgeklärt. „Schreien, weglaufen und es jemandem erzählen.“ ist die Devise. Die 10-jährige Fatima weiß, dass „wenn etwas geschieht, sollen wir es nicht für uns behalten, sondern erzählen.“ Mayerli (12) ergänzt: „Wenn wir es jemandem sagen und der nimmt uns nicht ernst, sollen wir zu jemand anderem gehen.“

Die 17-jährige Evelyn, die kurz nach der Trennung ihrer Eltern an Drogen geriet als sie neun oder zehn war, geht zu Coincidir, weil sie hier Rap machen kann. Mit ihrem Sprechgesang will sie Jugendliche erreichen und aufklären, dass es nicht nur Sex, Drogen und Gewalt gibt.


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Reportage Guatemala; Foto: Frau mit Mikrofon, sitzend (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Reportage Guatemala; Foto: Frau mit Mikrofon, sitzend (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)

Schutzhaus für Kinder, die Gewalt erfahren haben

Im Freien sind 57 Kinder und Jugendliche, oberflächlich betrachtet, bei einer Art Spiele ohne Grenzen gelandet; tatsächlich aber lehrt man sie gerade Vertrauen, Gemeinsinn und Zusammenhalt. Schön, ihnen beim Leben zuzusehen. Mama Margarita, selbst Kind, stürzt sich ins Leben ihrer Gruppe: lässt sich, wie geplant, rückwärts in Hände fallen, die sie auffangen; balanciert über besetzte Stühle; stemmt Reifen, auf den Schultern anderer stehend.

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Reportage Guatemala; Foto: Kinder spielen auf einer Wiese (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Es gibt hier kein Mobbing und kein Fluchen. Anders als in der Schule (Foto: Fabian Strauch)
Reportage Guatemala; Foto: Kinder spielen auf einer Wiese (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Es gibt hier kein Mobbing und kein Fluchen. Anders als in der Schule (Foto: Fabian Strauch)
Und dann pflanzen die Kinder zwei Lebensbäume. Eine Frau sagt: „Dieses Haus soll helfen, dass unsere Kinder einmal ein besseres Leben haben als wir.“ Sie sagt das im Alter von 21 Jahren. Was mag ihr widerfahren sein? Manchmal willst du nicht mehr fragen.
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Reportage Guatemala; Foto: Kinder und Jugendliche richten Mast auf  (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)
Reportage Guatemala; Foto: Kinder und Jugendliche richten Mast auf  (Quelle: Fabian Strauch / Kindernothilfe)

Von Hubert Wolf

Reporter, Redaktion Rhein-Ruhr, der das Projekt gemeinsam mit Fabian Strauch (Funke Foto Service GmbH) für die WAZ-Kindernothilfe-Weihnachtsaktion besucht hat.

Die Leser*innen der Funke Mediengruppe haben im Dezember 2018 rund 129.000 Euro für den Bau des neuen Schutzhauses gespendet.

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