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Chile: Entsetzen über kategorisches Nein zur neuen Verfassung

Entsetzen, Fassungslosigkeit, geradezu körperlich spürbarer Schmerz: Auch Wochen nach der offiziellen Ablehnung des Entwurfes für eine neue chilenische Verfassung ringen die Befürworter*innen immer noch um Worte. In dieser kategorischen Eindeutigkeit war das vernichtende Resultat der Volksabstimmung vom 4. September von keinem Meinungsforschungsinstitut prognostiziert worden. Im Interview sprechen Claudia Vera und José Horacio Wood vom Kindernothilfe-Partner Fundación ANIDE in Santiago über den Ausgang des Plebiszits und seine Folgen.
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„Wir hatten uns darauf vorbereitet, dass es knapp werden könnte, aber, dass am Ende nur 38,14 Prozent der Abstimmenden diesen für Chile so dringend notwendigen neuen politischen Rahmen unterstützen würden, damit haben wir nicht gerechnet,“ sagt José Horacio Wood. Bei den Kindernothilfe-Partnern, in vielen sozial engagierten Organisationen  und Menschenrechtsinitiativen beginnt in diesen Tagen die Suche nach Erklärungen für den Ausgang des Plebiszits, der das Land im Südwesten Lateinamerikas wohl auf lange Zeit weiter an den vom Militärregime unter Pinochet 1980 oktroyierten Verfassungsrahmen und seine auch im internationalen Vergleich besonders extreme neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ketten wird.
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Chile: Plebiszit 2022
Apruebo-Kampagne in dem Santiagoer Stadtteil Nuoa (Foto: Ximena Galleguillos)
Chile: Plebiszit 2022
Apruebo-Kampagne in dem Santiagoer Stadtteil Nuoa (Foto: Ximena Galleguillos)

Vor und nach dem Urnengang

Die Nachrichtensender hier in Europa zeigten in den Tagen vor dem Volksentscheid Bilder von Hunderttausenden, die im Zentrum Santiagos begeistert an der Abschlussveranstaltung der Apruebo-Kampagne teilnahmen und sehr viel Zuversicht ausstrahlten. Zu der letzten Kundgebung der Gegner des Verfassungsentwurfs kamen hingegen nur wenige. Wie passt das denn zu dem Ergebnis an den Wahlurnen?

Claudia Vera: Wir waren ebenfalls auf dieser Kundgebung auf der Alameda, der Hauptstraße Santiagos, wie Alle voller Hoffnung, voller Optimismus. Aber irgendwie spürte ich in den Tagen vor der Abstimmung, bei Gesprächen auf der Straße, auf dem Wochenmarkt, dass Viele ausweichend reagierten, wenn ich mit ihnen über den Vorschlag für eine neue Verfassung sprechen wollte. Im Nachhinein ist uns klar: Die Stimmung im Land war längst gekippt.

José Horacio Wood: Was besonders schmerzt, ist nicht, dass die Reichen und Wohlhabenden, die Leute aus der oberen Mittelschicht, diejenigen, die politisch immer schon Parteien aus dem rechten und extrem rechten Lager unterstützt haben, gegen den Verfassungsentwurf votierten. Das war von vornherein klar. Entschieden wurde diese Volksabstimmung in den Armenvierteln und in den ländlichen Regionen mit großen Armutsproblemen. Demoskopische Untersuchungen zeigen ganz klar, je geringer das Einkommen, je niedriger der Bildungsstand, umso höher der Nein-Stimmenanteil.

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Chile: Plebiszit 2022
Apruebo-Kampagne in dem Santiagoer Stadtteil Nuoa (Foto: Ximena Galleguillos)
Chile: Plebiszit 2022
Apruebo-Kampagne in dem Santiagoer Stadtteil Nuoa (Foto: Ximena Galleguillos)

Warum ist es so gekommen?

Warum ist es denen, die sich seit dem Ende des Pinochet-Regimes 1990 für eine neue Verfassung für Chile engagierten, nicht gelungen, diejenigen zu überzeugen, die von einem neuen Grundgesetz und dem Ende der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung am meisten profitiert hätten?

José Horacio Wood: Eine wichtige Erklärung liefert der verheerende Zustand unseres öffentlichen Bildungssystems. Am Ende ihrer Schulzeit fehlt bei Millionen junger Menschen jegliches Grundlagenwissen über das politische System, in dem sie leben, zur Zeitgeschichte, zum Verstehen elementarster wirtschaftlicher und ökonomischer Zusammenhänge. Mittlerweile fast fünf Jahrzehnte Marktradikalismus und neoliberaler Zurückbau der Rolle des Staats haben hier ganze Arbeit geleistet. Nicht von ungefähr verschulden sich Familien aus der unteren Mittelschicht mit Wahnsinnssummen, um ihren Kindern den Besuch eines privaten Kindergartens, einer privaten Grund- und Sekundarschule und danach einer privaten Uni zu ermöglichen. 

Claudia Vera: Dass der Entwurf für eine neue Verfassung Bildungsgerechtigkeit, eine Stärkung des öffentlichen Schul- oder auch des Gesundheitssystems versprach, hat Viele nicht überzeugt: Öffentliche Schulen, öffentliche Krankenhäuser stehen für schlechte Qualität, private für angeblich bessere Bedingungen, für motivierteres Personal. Der seit den Pinochet-Jahren wie ein schleichend wirkendes Gift in die Gehirne eingeträufelte zynische Satz: „Jeder ist für sich allein seines Glückes Schmied“ (Auf Spanisch: „Cada uno se rasca con sus propias uñas") hat am 4. September auf verhängnisvolle Weise gewirkt.

 

Was bei einem genaueren Blick auf die Abstimmungsergebnisse ins Auge fällt, ist, dass im Ausland, wo Chileninnen und Chilenen in den Botschaften und Konsulaten von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten – von wenigen Ausnahmen abgesehen - teilweise überwältigend hohe Zustimmungswerte für die neue Verfassung erreicht wurden. Wie wurde das in Chile kommentiert?

José Horacio Wood: Die Gegner der neuen Verfassung behaupten, dass die im Ausland lebenden Chileninnen und Chilenen keine Ahnung von dem ganzen Prozess gehabt hätten. Aber das Gegenteil ist der Fall, überall dort, wo Menschen nicht durch Fake News und Angstkampagnen eingeschüchtert wurden und sich wirklich mit dem Inhalt des vorgeschlagenen Textes beschäftigten, waren die Zustimmungsraten entsprechend hoch.
Letztlich können wir sagen: Die 38,14 Prozent der Abstimmenden, die diese neue Verfassung wollten, kommen überwiegend aus den traditionellen urbanen Mittelschichten, der sozial, kulturell und politisch engagierten Zivilgesellschaft, dem Teil unserer Gesellschaft, der sich den Menschenrechten, der Verantwortung für die Umwelt, den Idealen von Gerechtigkeit und Solidarität – oder wie wir, den Kinderrechten - verpflichtet fühlt und dem die Rechte indigener Menschen und solcher, die sich einer queeren community zugehörig sehen, wichtig sind.

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Chile: Aufstände im Oktober 2019
2019: Proteste in Chile (Foto: Ximena Galleguillos)
Chile: Aufstände im Oktober 2019
2019: Proteste in Chile (Foto: Ximena Galleguillos)

Aber das Plebiszit, bei dem erstmals wieder Wahlpflicht herrschte, zeigte, dass 61,86 Prozent der Abstimmenden keine derartige zeitgemäße und dem Sozialstaatsgedanken verpflichtete Verfassung wollen. Warum war die Rechazo-Kampagne so erfolgreich?

Claudia Vera: In einem Land, in dem es keinen einzigen Fernsehsender und keine einzige Tageszeitung gibt, die nicht einer der reichsten Familien Chiles gehört, wo praktisch der gesamte kommerzielle Radiomarkt von ganz wenigen Medienunternehmen kontrolliert wird, gab es so gut wie kein Durchkommen für Argumente befürwortender Stimmen. Wenn ich morgens mit vier anderen Passagieren im taxi colectivo (Sammeltaxi) bis zur Metrostation fuhr, wurde ich unablässig mit Radio-Spots der Rechazo-Kampagne bombardiert. Die andere Seite kam einfach nicht zu Wort.

José Horacio Wood: Was die Apruebo-Kampagne so geschwächt hat, war, dass unablässig irrwitzige fake news und immer dreistere Lügen dementiert werden mussten. Die hanebüchendsten waren etwa die Behauptung, dass durch die neue Verfassung Abtreibungen bis eine Woche vor der Geburt des Kindes möglich, die chilenische Flagge und die Nationalhymne abgeschafft und Sonderrechte für Angehörige des Mapuche-Volkes - etwa bei Verkehrsunfällen mit Nicht-Mapuche - geschaffen würden. Und dann natürlich die Nummer mit der angeblich drohenden Enteignung von Familien, die sich ein kleines Häuschen oder eine Wohnung zusammengespart hatten. Am allergroteskesten fand ich die Behauptung, dass wegen des Tierwohlgedanken im Verfassungsentwurf den Menschen im äußersten Norden oder in Patagonien ihre Schaf- und Ziegenherden weggenommen werden sollten. Am Anfang hielten wir alle diese Behauptungen einfach für absurd, durch nichts im Text des Verfassungsentwurfs belegt! Aber heute müssen wir sagen: Lügen wirken! Das ist bei Trump oder Bolsonaro nicht anders als hier in Chile.

 

Die tiefe Spaltung der chilenischen Gesellschaft, die auch in dieser Abstimmung ihren Ausdruck fand, zieht sich wie ein unüberbrückbarer Graben auch quer durch die Kirchen und christlichen Gemeinschaften in Chile. Welche Reaktionen auf den Ausgang des Plebiszits gibt es aus den Kirchen?

José Horacio Wood: Vor dem 4. September haben sich vor allem Menschen aus dem Umfeld der Kirchen zu Wort gemeldet, denen der Gerechtigkeitsaspekt aber auch der Gedanke zur Bewahrung der Schöpfung in dem vorgelegten Verfassungstext wichtig waren. Mich beeindruckte vor allem ein Dokument eines Teils des kontemplativen Ordens der barfüßigen Karmeliterinnen, die sich zu der Apruebo-Position bekannten und dafür heftig von der Hierarchie der katholischen Kirche kritisiert wurden. Aber auch aus liberalen, sozial engagierten Gemeinden protestantischer Denominationen gab es Unterstützung. Auf der anderen Seite stand ein Großteil der konservativen Pfingstkirchen, etwas der Iglesia Metodista Pentecostal de Chile, die sich aber schon während der Diktaturjahre immer eng an der Seite des Pinochet-Regimes positioniert hatten und das Ergebnis der Abstimmung vom 4. September euphorisch feierten.

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Wandbild zum Thema Kinderrechte (Foto: Jürgen Schübelin)
Wandbild zum Thema Kinderrechte (Foto: Jürgen Schübelin)

Wie kann es weitergehen?

Welche Perspektiven und Hoffnungen gibt es für die knapp 40 Prozent der Stimmberechtigten in Chile, die sich für eine neue Verfassung und damit eine neue Gesellschafts- und Werteordnung ausgesprochen haben?

Claudia Vera: Zunächst müssen wir realistisch und selbstkritisch anerkennen, mit unseren Argumenten zu Millionen von Menschen nicht durchgedrungen zu sein. Aber zu einer nüchternen Lageeinschätzung gehört auch, dass die rechten und extrem rechten Parteien in den beiden Kammern des Kongresses nach diesem Abstimmungsausgang keinerlei Interesse daran haben, an der Pinochet-Verfassung von 1980, die dann während der Regierungszeit von Ricardo Lagos einige kosmetische Veränderungen erfuhr, irgendetwas zu ändern. Die Hoffnung von Präsident Boric, hier doch noch einen alternativen Verfassungsänderungsprozess in Gang bringen zu können, teilen wir – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt - nicht.

José Horacio Wood:
Zu diesem Realismus gehört auch, dass wir uns eingestehen müssen, dass auf die Menschen in Chile, die nicht zu den Wohlhabenden und Reichen gehören, extrem harte Zeiten zukommen werden. Schon jetzt ächzt das Land unter einer Inflation von rund 15 Prozent. Und der Klimawandel, der in Chile besonders dramatische Folgen zeigt, wird sich durch den brutalen Raubbau an der Natur und das Fehlen jeglichen Gedankens von Nachhaltigkeit im Wirtschafts- und Finanzsystem weiter beschleunigen. Vor uns liegt – im wahrsten Sinne des Wortes – eine lange Durststrecke. Zu den notwendigen Lernprozessen gehört aber auch, dass Formen des politischen Protestes überdacht werden müssen.

Am Tag nach dem Plebiszit demonstrierten Schülerinnen und Schüler gegen die Bildungsmisere im Land. Sie, die am 4. September noch nicht alt genug waren, um abstimmen zu können, zogen mit ihrem laustarken Protest vor die Moneda, den Präsidentenpalast, also den Sitz einer progressiven, mit ihren Anliegen sympathisierenden Regierung – aber eben nicht vor den Kongress in Valparaíso, also dorthin, wo die Abgeordneten und Senatoren sitzen, die jede – noch so kleine – Veränderung beim kommerziellen Bildungssystem konsequent abblocken.

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Die Fragen stellte Lateinamerikaexperte Jürgen Schübelin.

Der Anthropologe José Horacio Wood arbeitet seit 1995 bei der Fundación ANIDE (Fundación de Beneficiencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida), der Kindernothilfe-Partner- und Koordinationsstruktur in Chile, und wurde 2001 zum Direktor dieser ökumenischen Stiftung berufen. Seine Kollegin Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Darüberhinaus begleitet und betreut Claudia Vera seit vielen Jahren die Lern- und Freiwilligendienstleistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste in Chile. Chile war 1969 das erste Land in Lateinamerika, in dem sich die Kindernothilfe engagierte.

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