Kindernothilfe Österreich. Kindern Zukunft schenken.

Mut und Zivilcourage für Kinderrechte in Chile

Am 11. September erinnern nicht nur die Gedenkstätten und Mahnmale in Chile, sondern Medien in der ganzen Welt an den Militärputsch in Chile vor einem halben Jahrhundert. Dieses Datum steht für Staatsterrorismus, tausendfachen Mord, Repression und den Beginn der 17jährigen Diktatur unter Augusto Pinochet, deren historische Bewertung die chilenische Gesellschaft bis heute spaltet.

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Bilderwand aus dem "Museo de la Memoria y los Derechos Humanos" in Santiago mit Fotos von Ermordeten und Verschwundenen (Foto: Jürgen Schübelin)
Bilderwand aus dem "Museo de la Memoria y los Derechos Humanos" in Santiago mit Fotos von Ermordeten und Verschwundenen (Foto: Jürgen Schübelin)
Bilderwand aus dem "Museo de la Memoria y los Derechos Humanos" in Santiago mit Fotos von Ermordeten und Verschwundenen (Foto: Jürgen Schübelin)
Bilderwand aus dem "Museo de la Memoria y los Derechos Humanos" in Santiago mit Fotos von Ermordeten und Verschwundenen (Foto: Jürgen Schübelin)

Für ganz viele Menschen in Europa steht dieses Datum auch für den Beginn eines bis dato nicht gekannten solidarischen Engagements für politisch Verfolgte, vor dem Militärregime hierher Geflüchteter und gleichzeitig für diejenigen, die in Chile der Barbarei mit beeindruckendem Mut und Zivilcourage durch Mitmenschlichkeit und den Aufbau einer Vielzahl von Sozialprojekten entgegentraten.

Weil auch die wechselvolle Geschichte der Kindernothilfe-Arbeit in dem lateinamerikanischen Land eng mit dem emblematischen Datum dieses 11. Septembers 1973 verbunden ist, wollen wir an dieser Stelle noch einmal einen Blick auf diese fünf Jahrzehnte Kooperation und Einsatz für die Kinderrechte werfen.

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Wie alles begann

Der Reihe nach: Begonnen hatte das Chile-Engagement für die damals noch junge Kindernothilfe 1969 in einer Notsiedlung am Rand von Valdivia, mit Familien, die neun Jahre zuvor durch das heftigste Erdbeben in der Geschichte Lateinamerikas und den dabei ausgelösten Tsunami obdachlos geworden waren. Die ersten zehn Patenschaften für stark unterernährte Kinder, die im Hogar Luterano - einem Projekt der örtlichen lutherischen Gemeinde - betreut und versorgt wurden, waren gleichzeitig Beginn der Kindernothilfe-Lateinamerikaarbeit, die heute rund 30 Prozent des KNH-Programmvolumens ausmacht. Der Aufbau des Chile-Programms verlief in den folgenden Jahren, während der Zeit der Unidad Popular unter Präsident Salvador Allende (1970 – 1973) und erst recht danach - als Antwort auf den Pinochet-Putsch und das Massenelend von Millionen Familien - in geradezu gigantischen Schritten: In den siebziger und achtziger Jahren ermöglichten Tausende Kindernothilfe-Patinnen und Paten die Unterstützung von zeitweise 70 Projekten – verteilt auf über 2800 Kilometer, von Armensiedlungen in der Wüste bei Iquique im äußersten Norden bis Puerto Montt, weit im Süden, aber auch bis in die Hochanden hinauf, an den Fuß des Vulkans Lonquimay oder in die Kordilliere von Nahuelbuta: „Das war ein logistischer Kraftakt ohnegleichen, was die Begleitung und Betreuung der Partner anbelangte“, erinnert sich der Anthropologe José Horacio Wood, seit 2001 Direktor der ökumenischen Stiftung Fundación ANIDE, deren Vorgängerorganisation Programa de Menores damals die Arbeit für die Kindernothilfe vor Ort organisierte. 

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Kindertagesstätte La Victoria: Ein Ort der Hoffnung (Foto: Jürgen Schübelin)
Kindertagesstätten in sogenannten campamentos, provisorischen Notsiedlungen und anderen Armenvierteln standen im Mittelpunkt der anfänglichen Projektarbeit vor Ort und sind auch heute noch ein wichtiger Bestandteil, wie hier in La Victoria (Foto: Jürgen Schübelin)
Kindertagesstätte La Victoria: Ein Ort der Hoffnung (Foto: Jürgen Schübelin)
Kindertagesstätten in sogenannten campamentos, provisorischen Notsiedlungen und anderen Armenvierteln standen im Mittelpunkt der anfänglichen Projektarbeit vor Ort und sind auch heute noch ein wichtiger Bestandteil, wie hier in La Victoria (Foto: Jürgen Schübelin)

Zu managen war dieses riesige Länderprogramm, das zweitgrößte in Lateinamerika neben der Kindernothilfe-Arbeit in Brasilien, nur, weil sich die Projekte doch sehr glichen: Kindertagesstätten, alle in Armenvierteln und provisorischen Notsiedlungen, sogenannten campamentos. Die allermeisten entstanden als Selbsthilfe-Initiativen von Müttern, die nach Möglichkeiten suchten, um ihren Kindern wenigstens einmal am Tag etwas Warmes zum Essen anbieten zu können und so etwas gegen die grassierende Unterernährung, der gefährlichsten Kinderrechtsverletzung jener Jahre, zu tun. Unterstützung gab es von Kirchen vor Ort, die einen gewissen Schutz vor der Repression und dem Terror durch das Regime bieten konnten, das während der ersten Jahre nach dem Putsch vom 11. September 1973 jede Form von Selbstorganisation mit allen Mitteln zu unterbinden suchte. Und über diese kirchlichen Netzwerke – zunächst evangelisch-lutherische, dann auch methodistische, die von evangelischen Freikirchen oder der Heilsarmee und immer stärker auch katholischer Institutionen - kamen die Kontakte zum Programa de Menores in Santiago und zur Kindernothilfe zustande. 

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Unermüdlicher Einsatz für Kinder und Jugendliche

„Eines hat sich während dieser zurückliegenden 54 Jahre nie geändert“, sagt José Horacio Wood: „Es ging bei dieser Arbeit immer um Kinder und Jugendliche in Situationen größter Verletzbarkeit.“ Während die unter Pinochet zur Staatsdoktrin erhobenen Prinzipien eines extremen Neoliberalismus öffentliches Engagement in Bildung, Gesundheitsversorgung oder eine aktive Sozialpolitik verhinderten und die Chicago Boys, die Ideologen dieses neuen Wirtschaftsmodells, von „einer Reduzierung des Staates auf das Notwendigste“ sprachen, ist Woods Kollegin Claudia Vera, Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgängerorganisation Programa de Menores als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert, davon überzeugt, dass „es die Kindernothilfe-Unterstützung dieser Projekte über so lange Zeit ermöglicht hat, den Gedanken an zivilen Widerstand und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrecht zu erhalten.“

Denn aus den anfangs sehr prekär ausgestatteten „Kinderkrippen“, in denen Mütter für Kinder kochten und mit ihnen spielten, wurden mit der Zeit „pädagogische Modellprojekte von beeindruckender Qualität“, sagt José Horacio Wood. Für ihn besteht einer der Erfolge des Kindernothilfe-Engagement in Chile darin, „dass hier Standards für die pädagogische Arbeit mit Kindern aus äußerst prekären Lebensbedingungen - unter Einbeziehung der Familien und mit Ausstrahlung in die gesamte Nachbarschaft - gesetzt wurden, die bis heute sogar für staatliche Institutionen Vorbildcharakter haben.“ Erreicht wurde das auch, weil unter der Diktatur viele gutausgebildete Menschen aus sozialen Berufen oder Universitäten, wo sie aus politischen Gründen die Arbeit verloren hatten, in von Kirchen getragenen Projekten Anstellung fanden. Sie brachten das Wissen über innovative pädagogische Methoden mit, halfen, eine engagierte Jugendarbeit aufzubauen – und sorgten für Bildungsangebote auch für die Mütter. Im Umfeld vieler Projekte entstanden - aktiv von Kindernothilfe unterstützt - einkommensschaffende Initiativen vor allem für Frauen, um die Situation der Familien zu verbessern.

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Eine Mutter mit ihren Kindern in einem Armenviertel in Concepción (1982) (Foto: Jürgen Schübelin)
Eine Mutter mit ihren Kindern in einem Armenviertel in Concepción (1982) (Foto: Jürgen Schübelin)
Eine Mutter mit ihren Kindern in einem Armenviertel in Concepción (1982) (Foto: Jürgen Schübelin)
Eine Mutter mit ihren Kindern in einem Armenviertel in Concepción (1982) (Foto: Jürgen Schübelin)

Mit der mühsam erkämpften Überwindung des Militärregimes und der Rückkehr zu demokratisch gewählten Regierungen ab März 1990, änderte sich der Charakter der Projekte. Neue Themen rückten in den Vordergrund: Statt um Versorgung und Betreuung von Kindern in Lebenssituationen von Armut und extremer Armut ging es immer stärker um das Engagement für Kinderrechte und darum, dass staatliche Stellen ihrer Schutz- und Unterstützungs-Verantwortung für Kinder gerecht werden. „Ganz wichtig war auch die Strategie-Verschiebung hin zu mehr Prävention“, erinnert sich Claudia Vera, „die Teams in den Projekten arbeiteten mit aller Kraft daran, zu verhindern, dass Kinder auf der Straße landeten oder drogenabhängig wurden.“

Zu den neuen Themen gehört seit der Jahrtausendwende insbesondere das Engagement für die Rechte von Kindern, die mit Angehörigen oder auch allein aus anderen lateinamerikanischen Ländern vor Armut, Bandenkriminalität und politischer Gewalt nach Chile flüchten – und hier ganz oft auf unverbrämten Rassismus stoßen, vor allem, wenn sie wie Mädchen und Jungen aus Haiti eine dunkle Hautfarbe haben und Kreole statt Spanisch sprechen. Hier Druck auf die zuständigen staatlichen Stellen auszuüben und diesen Kindern das Recht auf Schulbesuch und den Zugang zum Gesundheitssystem zu sichern, wurde zur Daueraufgabe. „Überhaupt ist unsere Arbeit in diesen Jahren immer politischer geworden,“ sagt José Horacio Wood, und erinnert auch an die gemeinsamen Anstrengungen von ANIDE und Kindernothilfe, die extreme Polizeigewalt gegen Kinder aus Mapuche-Gemeinden im Süden Chiles immer wieder öffentlich zu machen und in zwei Fällen besonders brutale Übergriffe bis vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte zu tragen und eine Verurteilung der chilenischen Regierung zu erreichen.  

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Ein Mapuche-Junge mit der rituellen Schalentrommel Kultrun bei einer Zeremonie in der Schule von Huidima in Südchile - Foto: Jürgen Schübelin
Ein Mapuche-Junge mit der rituellen Schalentrommel Kultrun bei einer Zeremonie in der Schule von Huidima in Südchile (Foto: Jürgen Schübelin)
Ein Mapuche-Junge mit der rituellen Schalentrommel Kultrun bei einer Zeremonie in der Schule von Huidima in Südchile - Foto: Jürgen Schübelin
Ein Mapuche-Junge mit der rituellen Schalentrommel Kultrun bei einer Zeremonie in der Schule von Huidima in Südchile (Foto: Jürgen Schübelin)
Ein weiterer, ganz wichtiger Erfolg bildete nach 32 Jahren zähem Ringen am 15. März 2022 das Inkrafttreten eines Kinderrechte- und Kindesschutz-Statuts für Chile. In keinem anderen Land Lateinamerikas hatte es länger gedauert, um dieses in der UN-Kinderrechtskonvention vorgesehene Rahmen- und Garantiegesetz durchs Parlament zu bringen. Jahrelang waren ANIDE und die Kindernothilfe-Partnerorganisationen zusammen mit Kinderrechtenetzwerken immer und immer wieder auf die Straße gegangen, hatten um politische Unterstützung gekämpft und sich doch die Zähne an der Indifferenz der politischen Entscheidungsträger ausgebissen.
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Überhaupt wurden Netzwerk-Arbeit, das Fitmachen und Unterstützen der Projektpartner, um Kinderrechtsthemen an die Öffentlichkeit zu tragen und in Verhandlungen mit Institutionen konkrete Verbesserungen für Kinder zu erreichen, zu so etwas wie dem Markenkern des Chile-Programms. Und noch ein Aspekt ist Claudia Vera und José Horacio Wood bei ihrem Blick auf diese 54 Jahre ganz wichtig: Nach dem schweren Erdbeben vom 27. Februar 2010 war es Kindernothilfe, die den Partnern in der Region um Concepción den Wiederaufbau zerstörter oder schwer beschädigter Infrastruktur und somit die Weiterarbeit mit den Kindern und ihren Familien ermöglichte – oder nach dem gewaltigen Großfeuer in den Armenvierteln an den Hängen von Valparaíso im April 2014 ein umfangreiches Projekt mit traumatisierten Kindern finanzierte. ANIDE errechnete, dass seit 1969 über 100.000 Kinder und Jugendliche an den von Kindernothilfe unterstützten Projekten in Chile beteiligt waren – und in diesen 54 Jahren Kindernothilfe-Spenderinnen und Spender rund 62 Millionen Euro für diese Arbeit aufgebracht haben.
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Kinder in San Luis de Macúl (Foto: Jürgen Schübelin)
Kinder in San Luis de Macúl, wo sich das „Belén El Cobre“-Projekt befindet (Foto: Jürgen Schübelin, 1982)
Kinder in San Luis de Macúl (Foto: Jürgen Schübelin)
Kinder in San Luis de Macúl, wo sich das „Belén El Cobre“-Projekt befindet (Foto: Jürgen Schübelin, 1982)

Wie es weitergeht

Das weitere gemeinsame Kinderrechtsengagement, das die Kindernothilfe Österreich im April 2022 in Santiago de Chile erneut fixierte, steht vor großen Herausforderungen: Noch immer leiden vor allem die Familien in den Armenvierteln an den Folgen der Corona-Pandemie: „Chile ist mit 260 Tagen, an denen Kinder nicht zum Unterricht konnten, weltweit eines der Länder mit den längsten Schulausfällen“, betont Claudia Vera. Das hat verheerende Folgen: Zum Beispiel Lernrückstände, ein großer Teil der 13- bis 14jährigen versteht selbst einfachste Texte nicht mehr. Und auch die gravierenden psychosozialen Lockdown-Konsequenzen werden immer deutlicher. Nach und nach zeigt sich, welche Zunahme an innerfamiliärer Gewalt die Corona-Jahre verursacht haben. Und das alles in einem ökonomischen Umfeld, das sich massiv verschlechtert hat, mit einer Inflation für Grundnahrungsmittel, Wasser, Gas und Strom von 30 bis 50 Prozent, einer steigenden Arbeitslosigkeit und zwei Dritteln aller Erwerbstätigen, die nur 300 Euro im Monat verdienen. 

Politisch erleben die Menschen in Chile diesen Jahrestag des Militärputsches vor einem halben Jahrhundert als eine Zeit gewaltiger sozialer Herausforderungen und extremer gesellschaftlicher Spannungen, nachdem am 4. September 2022 in Chile der Versuch, die marktradikale und autoritäre Pinochet-Verfassung von 1980 durch ein modernes, an den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, demokratischer Teilhabe, Minderheitenrechte und Diversität - sowie ökologischer Nachhaltigkeit - ausgerichtetes Grundgesetz zu ersetzen, bei einer Volksabstimmung dramatisch gescheitert war. Während diejenigen, die das Verfassungsprojekt unterstützt hatten, auch ein Jahr danach den Schock der Niederlage noch immer nicht überwinden können, ist in vielen Armenvierteln einfach nur Apathie und ein generelles Misstrauen gegenüber Staat und Politik zu spüren. „Die Teams in den Partnerprojekten“ sagt Claudia Vera, „stehen vor der gigantischen Herausforderung, Kinder, Jugendliche und Erwachsene neu dafür zu begeistern, dass es sich lohnt, Dinge selbst in die Hand zu nehmen und Veränderungsprozesse zu gestalten.“ Dafür, dass Kindernothilfe mit der Übergabe der Programmverantwortung für Chile von Duisburg nach Wien in so schwierigen Zeiten einen Weg gefunden hat, um dafür auch weiter die materiellen und rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, sind das ANIDE-Team und die equipos der derzeit fünf Partnerprojekte in Santiago – sowie den beiden südchilenischen Städten Concepción und Coronel - einfach nur dankbar.
 
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Im Projekt Colectivo sin Fronteras werden die Kinder und Jugendliche hinsichtlich Rassismus sensibilisiert und gestärkt (Foto: Jürgen Schübelin)
Im Projekt Colectivo sin Fronteras werden die Kinder und Jugendliche hinsichtlich Rassismus sensibilisiert und gestärkt (Foto: Jürgen Schübelin)
Im Projekt Colectivo sin Fronteras werden die Kinder und Jugendliche hinsichtlich Rassismus sensibilisiert und gestärkt (Foto: Jürgen Schübelin)
Im Projekt Colectivo sin Fronteras werden die Kinder und Jugendliche hinsichtlich Rassismus sensibilisiert und gestärkt (Foto: Jürgen Schübelin)

Autor: Jürgen Schübelin. 

Der Sozialwissenschaftler arbeitete insgesamt 12 Jahre in Chile für verschiedene Entwicklungsorganisation. Danach verantwortete er für über zwei Jahrzehnte als Kindernothilfe-Referatsleiter für Lateinamerika und die Karibik die Programm- und Projektarbeit auf dem Subkontinent. Seit Beginn seines Ruhestands im Februar 2022 unterstützt er die Kindernothilfe Österreich ehrenamtlich.

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