Kindernothilfe Österreich. Kindern Zukunft schenken.

Brasilien hat gewählt

In der Stichwahl am 30. Oktober hat eine - wenn auch dezimierte - Mehrheit der brasilianischen Wahlberechtigten gegen Bolsonaro und für Lula gestimmt. Was Kinderrechtsorganisationen für die Zukunft erwarten und befürchten, beleuchtet die Sozialwissenschaftlerin und gelernte Sozialarbeiterin Flávia Silva im Interview. "Das Engagement für die Kinderrechte im größten Land Lateinamerikas steht vor gewaltigen Herausforderungen", bringt es die Kindernothilfe-Länderkoordinatorin für Nordbrasilien auf den Punkt.
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Bis zum Abgrund fehlte nur ein winziger Schritt

Dieser denkwürdige Sonntag, sagt Flávia Silva, „war für mich einer der bedrückendsten und angespanntesten Tage meines ganzen Lebens!“ Noch immer kann es die Sozialwissenschaftlerin und gelernte Sozialarbeiterin, die das Kindernothilfe-Team in Recife - im brasilianischen Nordosten - koordiniert, nicht fassen, „dass fast die Hälfte der wahlberechtigten Menschen in diesem Land für einen rechtsextremen, von Gewalt- und Allmachtsphantasien getriebenen rassistischen Präsidentschaftskandidaten gestimmt hat!“ Nach dem nur hauchdünnen Wahlsieg des Sozialdemokraten Luiz Inácio Lula da Silva (50,9%) über den sich erneut bewerbenden Amtsinhaber Jair Bolsonaro (49,1%) bedarf es, so Flávia Silva, gigantischer Anstrengungen, um das in Sachen Demokratie und Menschenrechte während der Bolsonaro-Jahre verlorene Terrain zurück zu gewinnen. Dabei ist es aus ihrer Sicht vor allem eine Gruppe, die den höchsten Preis für den schmutzigsten und brutalsten Wahlkampf, den es in der brasilianischen Geschichte je gegeben hat, bezahlt: Die Kinder aus den favelas und den verelendeten ländlichen Regionen Brasiliens! 
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Gewalt gegen Kinder ist stark gestiegen (Foto: Kindernothilfe-Partner)
Gewalt gegen Kinder ist stark gestiegen (Foto: Jürgen Schübelin)
Gewalt gegen Kinder ist stark gestiegen (Foto: Kindernothilfe-Partner)
Gewalt gegen Kinder ist stark gestiegen (Foto: Jürgen Schübelin)

Ein Wahlkampf in Zeiten von Verunsicherung und globaler Krisen 

Warum war dieses Rennen auf den letzten Metern so eng? Wie konnte es Bolsonaro, der zeitweise ja der - laut Umfragen - unpopulärste Präsident Brasiliens aller Zeiten war, mit Unterstützung der hinter ihm stehenden Interessengruppen gelingen, in den zurückliegenden Monaten – und vor allem zuletzt, nach dem ersten Wahlgang vom 2. Oktober – derart aufzuholen?

Flávia Silva: Diese Allianz aus Militär, Polizei, Agroindustrie, erzkonservativen Teilen der Ober- und Mittelschicht, Medienimperien und vor allem der evangelikalen Kirchen, die schon bei der ersten Wahl Bolsonaros 2018 funktionierte, hat es geschafft, ein extrem aufgeheiztes, vergiftetes Klima im Land zu erzeugen, gegen das es mit Empirie und Fakten so gut wie kein Durchkommen gab. Bolsonaros Wahlslogan Deus, pátria e família (Gott, Vaterland und Familie) war eine bewusst gewählte Anleihe aus dem historischen Faschismus, mit einem extrem autoritären Menschen- und Gesellschaftsbild, das aber offenbar genau in unsere Zeit maximaler Verunsicherung und sich überlappender globaler Krisen passte. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen der Kindernothilfe-Partnerorganisationen und unserer Netzwerke kommen wir zu dem Schluss, dass vor allem die Pfingstkirchen und die Strategie Bolsonaros, sich als der Messias gegen den angeblichen Anti-Christen Lula zu inszenieren, den Ausschlag gaben. Unter der Flut von Fake News, die für diesen Wahlkampf erfunden wurden, war keine Lüge so erfolgreich wie die, dass Lula im Falle seines Siegs die Kirchen würde schließen lassen! 
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Religiöse Botschaften sind omnipräsent (Foto: Jürgen Schübelin)
"Jesus liebt Dich" - Religiöse Botschaften sind im Alltag der Menschen omnipräsent. Eine Aufnahme aus einem Textilmarkt in Fortaleza, Nordost-Brasilien (Foto: Jürgen Schübelin)
Religiöse Botschaften sind omnipräsent (Foto: Jürgen Schübelin)
"Jesus liebt Dich" - Religiöse Botschaften sind im Alltag der Menschen omnipräsent. Eine Aufnahme aus einem Textilmarkt in Fortaleza, Nordost-Brasilien (Foto: Jürgen Schübelin)
Besonders befremdlich wirkt, dass in ganz vielen favelas ebenfalls eine Mehrheit der Wahlberechtigten für Bolsonaro und ihn unterstützende Abgeordneten-Kandidatinnen und Kandidaten gestimmt hat. Warum haben ausgerechnet die Menschen, die in den zurückliegenden vier Jahren am meisten unter der neoliberalen Agenda der bisherigen Regierung gelitten haben, für eine Fortsetzung dieser Politik votiert?

Flávia Silva:
Gerade in den favelas sind die evangelikalen Kirchen extrem stark. Sie schließen die Lücken, die durch den Rückzug öffentlicher Institutionen, durch das Austrocknen engagierter Sozialprogramme, kurz durch die Idee vom „Schlanken Staat“ gerissen wurden. Hinzu kommt der katastrophale Zustand des öffentlichen Schul- und Gesundheitssystems und die traumatischen täglichen Gewalterfahrungen, das Gefühl, schwer bewaffneten Banden schutzlos ausgeliefert zu sein. Und selbst die Exzesse der Polícia Militar bei ihren Operationen in favelas, bei denen regelmäßig auch völlig Unbeteiligte getötet werden, befördern eher noch das Gefühl, dass ein Ex-Militär wie Bolsonaro, der sich als „harter Hund“ inszeniert, genau der Richtige ist. Und weil die Pastoren für ihn beten, die Fernsehprogramme der großen Pfingstkirchen rund um die Uhr laufen, sonstige Informationen nur noch über einschlägige Social Media-Kanäle konsumiert werden, war das Abstimmungsergebnis dann das, was wir am 30. Oktober erlebt haben. 
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Bub in einem brasilianischen favela (Foto: Jürgen Schübelin)
Besonders Kinder leiden unter dem katastrophalen Zustand des öffentlichen Schul- und Gesundheitssystems (Foto: Jürgen Schübelin)
Bub in einem brasilianischen favela (Foto: Jürgen Schübelin)
Besonders Kinder leiden unter dem katastrophalen Zustand des öffentlichen Schul- und Gesundheitssystems (Foto: Jürgen Schübelin)
Warum hat denn nicht einmal die entsetzliche Erfahrung mit der Corona-Pandemie und den 700.000 Todesopfern, von denen ja überproportional viele aus den Armenvierteln kamen, zu einem Umdenken geführt? Von der Weltgesundheitsorganisation wurde die systematische Verharmlosung von COVID-19 und Befeuerung von Impfskepsis durch die Bolsonaro-Regierung ja immer wieder als eine Ursache für das Ausmaß der Katastrophe, die sich da in Brasilien abspielte, benannt.

Flávia Silva: Alles, was mit Wissenschaft und Fakten - etwa auch zum Thema Klima und Umwelt – zu tun hat, wurde in den zurückliegenden vier Jahren von Bolsonaro und seinen Leuten systematisch diffamiert. In Brasilia schaffte die Regierung das Wissenschafts- und Kulturministerium einfach ab. Zum ersten Mal erleben wir in diesem Land, wo es nie irgendwelche Probleme gab, Kleinkinder gegen Pocken und andere gefährliche Erkrankungen durch Immunisierung zu schützen, Anti-Impfkampagnen. Plötzlich gibt es wieder Infektionserkrankungen bei Kindern, die jahrzehntelang nicht mehr vorkamen. Auch hier sind es evangelikale Kirchen, die eine verhängnisvolle Rolle spielen. Ihre Pastoren erklären: „Nur Gott wird uns retten!“ Besonders infam finde ich die Aussage: „Wer an Corona starb, hat Gott einfach nicht genug um Hilfe gebeten.“ Aber das passt alles in das gesellschaftliche Bild vom Individuum, das ganz allein seines Glückes Schmied ist – und von einem Staat, der sich gefälligst nicht in das, was innerhalb der Familien passiert, einzumischen hat. Besonders bedrückt mich, wie verantwortungslos hier mit dem Leben und der Gesundheit von Millionen Kindern gespielt wird. Das gilt auch für die unerträgliche Gleichgültigkeit der Behörden gegenüber den dramatisch angewachsenen Zahlen von Gewalt und gerade auch sexualisierter Gewalt gegen Kinder innerhalb der Familie während der Pandemiezeit. 
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Ein wichtiger Tag für Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Umweltschutz

Am Wahltag machten verstörende Fernsehbilder die Runde, in denen die Verkehrspolizei Busse mit Menschen auf dem Weg in die Wahllokale an der Weiterfahrt hinderte. Was hatte es mit diesen Vorfällen auf sich?

Flávia Silva: Das war ein Puzzleteilchen in einem viel größeren Bild: Bolsonaro hat unter Verletzung der brasilianischen Verfassung und der Bundesgesetze den Staatsapparat mit seinen verschiedenen Polizeiorganisationen und Institutionen, aber auch öffentliche Gelder – etwa aus dem Sozialfonds Auxílio Brasil – für seinen Kampagne genutzt, um Lula bei den Wählergruppen zu schwächen, die traditionell für die Arbeiterpartei (PT) stimmen, zum Beispiel die Bevölkerungsmehrheit im Nordosten oder Menschen aus noch nicht von seinen Parteigängern kontrollierten Armenvierteln. Und ja, die Polícia Rodoviária Federal (PRF) errichtete auf Geheiß von Leuten aus dem Bolsonaro-Umfeld am Wahltag in Regionen mit hohen PT-Anteilen Straßenblockaden und hinderte die Menschen so an der Abstimmung. Diese Praxis hat in Lateinamerika leider traurige Tradition.
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Kinderzeichnung für den Frieden (Foto: Jürgen Schübelin)
Der kleine Samuel aus dem Projekt des Partners IFAN - Atitude Legal aus Vila Velha bei Recife fordert "Frieden" (Foto: Jürgen Schübelin)
Kinderzeichnung für den Frieden (Foto: Jürgen Schübelin)
Der kleine Samuel aus dem Projekt des Partners IFAN - Atitude Legal aus Vila Velha bei Recife fordert "Frieden" (Foto: Jürgen Schübelin)
Trotz alledem hat am 30. Oktober eine – wenn auch dezimierte – Mehrheit der Wahlberechtigten gegen Bolsonaro und für Lula gestimmt. Aus dem Umfeld von Bolsonaro – und auch von ihm selbst - gibt es jetzt nach tagelangem Schweigen immerhin erste Signale, den verfassungsgemäßen Regierungswechsel am 1. Januar zu akzeptieren. Was erwarten und was befürchten die Kinderrechtsorganisationen in Brasilien beim Blick auf die kommenden Monate? 

Flávia Silva: Wir sind uns alle bewusst, dass für den Sturz in den Abgrund – in Gestalt eines weiteren Mandats für die Bolsonaro-Administration – nur ein winziger Schritt fehlte. Und wir sehen auch, dass der Teil der Wählerinnen und Wähler in unserem Land, der für Demokratie, soziale Gerechtigkeit, den Schutz der Menschenrechte und der Umwelt eintritt, massiv in die Defensive geraten ist. Für Lula haben sich die Menschen mit besserer Bildung, die Studierenden, Intellektuellen, Künstlerinnen und Künstler, die in den sozialen Organisationen, den Umwelt- und Indigenen-Bewegungen und in den Gewerkschaften Engagierten eingesetzt – aber auch Gläubige aus nicht-evangelikalen und nicht-charismatischen Kirchen. Für die brasilianischen Kinderrechtsorganisationen war die ganze Zeit über klar, was hier auf dem Spiel stand: Ich erinnere nur daran, dass eines der politischen Projekte, das in diesem Wahlkampf von den Bolsonaro-Leuten propagiert wurde, darin bestand, den gesetzlichen Rahmen zu schaffen, um verurteilte Jugendliche ab 16 Jahren in Erwachsenen-Haftanstalten einsperren zu können! Das Team der Kindernothilfe-Partnerorganisation CEDECA Ceará hat hier sehr mutig mit einer engagierten Kampagne gegengehalten. Ein weiterer sensibler Bereich sind die Rechte von Jugendlichen mit einer queeren-Identität. Wir haben uns die ganze Zeit vorgemacht, in einer offenen, modernen, toleranten Gesellschaft zu leben, in der sexuelle Minderheiten ihren Platz haben. Die Bolsonaro-Jahre zeigten jedoch, wie brutal und in vielen Fällen lebensgefährlich das Schüren des Hasses auf LTBQ-Personen ist – und wie sehr sich dieses Thema für Agitation und Mobilisierung eignet. Noch ein Aspekt ist mir wichtig: Die Corona-Pandemie und der verantwortungslose staatliche Umgang mit ihr, die Rückkehr des Hungers und die sozialen Abstürze in Millionen brasilianischer Familien haben das kollektive Selbstbewusstsein der Menschen und das Vertrauen in die eigenen und gemeinschaftlich-solidarischen Fähigkeiten extrem geschwächt. Das spielte dem Rechts-Bündnis bei diesen Wahlen in die Hände. Hier Wiederaufbauarbeit zu leisten, sehe ich als eine Riesenherausforderung und Aufgabe für uns, die wir uns in Nicht-Regierungsorganisationen engagieren.
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Wiederaufbau und Zukunftsperspektiven

Was genau haben sich Kindernothilfe-Partnerorganisationen in Brasilien überlegt, wie sie diese Herausforderungen angehen könnten?

Flávia Silva: Die Teams der Partner sagen uns, dass es jetzt zuallererst darum geht, den Gesprächskontakt zu Familien aus dem Projektumfeld, die für Bolsonaro gestimmt haben, nicht abreißen zu lassen und zu erreichen, dass die Kinder und Jugendlichen aus diesen Familien weiter an den Programmen und Aktivitäten teilnehmen. Nur so wird es möglich sein, die traumatischen Konfrontations- und Gewalterfahrungen, die die Kinder während der langen Monate dieses brutalen Wahlkampfes erlebt und erlitten haben, zu bearbeiten – und ein gewaltfreies Miteinander neu einzuüben. Dann müssen wir an unsere alten Ziele anknüpfen: Stärkung des Selbstbewusstseins – und der Selbstschutz-Kompetenz der Kinder, das Ermöglichen von Erfolgserlebnissen durch konkrete Veränderung, die Kinder und Jugendliche durch ihre Initiativen und Aktivitäten erreichen – und natürlich das Knüpfen von Arbeitsbeziehungen rund um das Thema Kinderrechte zu den neuen Administrationen, die auf kommunaler, Einzel- und bundestaatlicher Ebene am 1. Januar die Arbeit aufnehmen. Wir als Kindernothilfe-Team hier im Nordosten Brasiliens arbeiten mit Hochdruck daran, eine Kooperation mit einer neuen Partnerorganisation im Bundesstaat Tocantins, der eine Hochburg des Bolsonarismo ist, vorzubereiten. In Tocantins gibt es extrem wenige Organisationen, die sich zum Thema Kinderrechte engagieren, deshalb ist es hier strategisch besonders wichtig, zivilgesellschaftliche Anstrengungen, bei denen es um den Schutz von Kindern vor Gewalt und ihre Teilhaberechte geht, zu stärken.
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Aktion gegen Gewalt in Brasilien (Foto: Jürgen Schübelin)
Foto eines T-Shirts zu der Kampagne der Kindernothilfe-Partnerorganisation CEDECA Ceará aus Fortaleza "Gefängnis ist keine Lösung für soziale Ungerechtigkeit" (Foto; Jürgen Schübelin)
Aktion gegen Gewalt in Brasilien (Foto: Jürgen Schübelin)
Foto eines T-Shirts zu der Kampagne der Kindernothilfe-Partnerorganisation CEDECA Ceará aus Fortaleza "Gefängnis ist keine Lösung für soziale Ungerechtigkeit" (Foto; Jürgen Schübelin)
Was erwarten die brasilianischen Partner und die Teams in den beiden KNH-Büros in Recife und Belo Horizonte in dieser Phase von den vier Kindernothilfe-Organisationen in Europa?

Flávia Silva: Kindernothilfe muss als internationale Stimme noch lauter vernehmbar sein! Wir brauchen dringend mehr Aufmerksamkeit aus Europa – und das bitte nicht nur, wenn hier Wahlen anstehen. Auch die Kinderrechte-Politik der am 1. Januar startenden Lula-Regierung werden wir professionell und kritisch begleiten müssen. In den zurückliegenden Jahren haben wir erlebt, wie entscheidend Advocacy-Anstrengungen unserer Partner sind, was durch Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden kann, aber auch, wie überlebenswichtig der Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern ist. Dafür bedarf es Unterstützungsmittel, engagierter Spenderinnen und Spender – und ein vernetztes, verzahntes Vorgehen über den Atlantik hinweg. 
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von Jürgen Schübelin

Flávia Silva, die mit dem designierten Präsidenten Lula da Silva nicht verwandt und verschwägert ist, ist Sozialwissenschaftlerin und gelernte Sozialarbeiterin. Sie koordiniert das Kindernothilfe-Team in Recife im Nordosten Brasiliens.

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