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Chile vor dem erneuten Verfassungsentscheid: Es ist merkwürdig still

Am Sonntag, 17.12.2023, sind 15 Millionen Stimmberechtigte zum zweiten Mal in eineinviertel Jahren aufgerufen, über einen Entwurf für eine neue chilenische Verfassung zu entscheiden, nachdem der erste Vorschlag 2022 mit lediglich 32,13 Prozent Zustimmung und 61,87 Prozent Ablehnung dramatisch gescheitert war.

Vielleicht hilft ja Galgenhumor. „15 Monate lang, seit dem 4. September 2022, dachten wir, dass die Mehrheit der Chileninnen und Chilenen in ganz Lateinamerika die mit den wenigsten Tassen im Schrank wären“, sagt Claudia Vera: „Jetzt müssen wir anerkennen, dass uns die Wahlberechtigten in Argentinien in dieser Disziplin klar überholt haben!“ Für die bevorstehende Abstimmung hofft die Programm- und Projektkoordinatorin der Kindernothilfe-Partnerorganisation in Chile, Fundación ANIDE, dass der imaginäre Nicht-alle-Tassen-im-Schrank-Pokal nicht wieder zurück auf die westliche Seite der Andenkordillere nach Chile wandert.

 Im Interview spricht sie über die Gefühlslage vor dem Plebiszit in der Bevölkerung und bei den Kindernothilfe-Partnern in Chile.

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Dystopische Aussichten: Würde der vorgeschlagene Verfassungsentwurf angenommen, wäre zivilgesellschaftlicher Protest in Chile zukünftig noch gefährlicher (Foto: Jürgen Schübelin)
Dystopische Aussichten: Würde der vorgeschlagene Verfassungsentwurf angenommen, wäre zivilgesellschaftlicher Protest in Chile zukünftig noch gefährlicher (Foto: Jürgen Schübelin)
Dystopische Aussichten: Würde der vorgeschlagene Verfassungsentwurf angenommen, wäre zivilgesellschaftlicher Protest in Chile zukünftig noch gefährlicher (Foto: Jürgen Schübelin)
Dystopische Aussichten: Würde der vorgeschlagene Verfassungsentwurf angenommen, wäre zivilgesellschaftlicher Protest in Chile zukünftig noch gefährlicher (Foto: Jürgen Schübelin)

Während der zurückliegenden vier Jahre seit dem "Estallido Social", der Rebellion von Millionen Chileninnen und Chilenen gegen das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell und gegen die politischen und institutionellen Hinterlassenschaften der autoritären Pinochet-Verfassung von 1980, durchliefen Verteidigerinnen und Verteidigern der Menschen- und Kinderrechte und demokratisch Engagierten aus der Zivilgesellschaft ein Wechselbad der Gefühle, das kaum extremer vorstellbar ist. Jetzt in den Tagen vor dem Verfassungsentscheid am 17. Dezember irritiert beim Blick nach Chile die Stille und das merkwürdige Desinteresse an dem, was da entschieden wird. Wie lässt sich das erklären?

Claudia Vera: Diese Achterbahnfahrt, die wir hinter uns haben, erst mit den brutalen Auseinandersetzungen während der Massenproteste 2019/2020 und der Polizeirepression, die 34 Menschen das Leben kosteten und bei der es über 11000 Verletzte gab, dann dem auf der Straße erkämpften Volksentscheid vom 25. Oktober 2020 und dem euphorisierenden Ergebnis einer Zustimmung von fast 80 Prozent für den Vorschlag, durch einem aus der Zivilgesellschaft gewählten Verfassungskonvent den Entwurf für ein neues Grundgesetz zu erarbeiten, Monate des intensiven Engagement an der Basis, in den Stadtteilen und Organisationen, diesen Verfassungsprozess zu begleiten und mitzugestalten: Da war ganz viel Hoffnung auf einen Neuanfang für unser Land! Dann der brutale Absturz am 4. September 2022 und die Ablehnung der demokratischsten, sozialsten, inklusivsten, ökologischsten und rechtsstaatlichsten Verfassung, die es je in Lateinamerika gegeben hätte, durch eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden: All das hat unglaublich Kraft gekostet! Als danach ein komplett von den rechten Parteien dominierter Verfassungsrat ab Mai 2023 den jetzt zur Abstimmung stehenden Text ausarbeitete, verfolgten das höchstens noch ein paar Spezialistinnen und Spezialisten mit. Die breite Öffentlichkeit hatte sich weitestgehend aus diesem Prozess ausgeklinkt.

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Entmutigung und Diffamierung

Kann es sein, dass genau das das Ziel derjenigen war, die 2022 mit allen Mitteln das Projekt einer demokratischen Verfassung für Chile zu Fall bringen wollten? Und was ist der Kern des Entwurfs, über den jetzt abstimmt wird?

Claudia Vera: Die Entmutigung und Diffamierung sozialer Bewegungen und das Kaltstellen einer engagierten, kritischen Zivilgesellschaft sind sicherlich Schlüsselstrategien derjenigen, die verhindern wollen, dass sich in Chile irgendetwas an den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen verändert. Der Entwurf, der jetzt zur Abstimmung steht, ist in weiten Teilen extremer als die vom Pinochet-Regime oktroyierte Verfassung von 1980. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Sachen Geschlechter-Gerechtigkeit würden wir, wenn dieser Text Verfassungswirklichkeit werden sollte, um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen. Es geht hier um ein nationalistisch-konservatives Gesellschaftsbild – eingebettet in eine marktradikale Wirtschaftsordnung, die keinerlei Einschränkungen, etwa beim Schutz von Ressourcen, Natur und Umwelt kennt.

Und trotzdem haben sich die rechten Parteien in Chile offenbar total verstritten, was die Zustimmung oder Ablehnung des Verfassungsentwurfs anbelangt. Um was geht es bei diesem Konflikt?

Claudia Vera: Die extreme Rechte hat Probleme damit, dass der ultranationalistische und populistische Ex-Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast von der Partei der Republicanos, der im Dezember 2021 die Stichwahlen gegen den jetzigen chilenischen Präsidenten Gabriel Boric verloren hat, bei den Beratungen über den Verfassungsentwurf an einer Stelle die Formulierung „sozialer Rechtsstaat“ durchgehen ließ. Deswegen ruft ein Teil dieses Sektors jetzt zur Ablehnung des Textes auf. 

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Szene aus der Zeit der Massenproteste des "Estallido Social" 2019/2020 mit der Erinnerung an die extreme Polizeigewalt: "Nos matan - Sie töten uns" (Foto: Ximena Galleguillos)
Szene aus der Zeit der Massenproteste des "Estallido Social" 2019/2020 mit der Erinnerung an die extreme Polizeigewalt: "Nos matan - Sie töten uns" (Foto: Ximena Galleguillos)
Szene aus der Zeit der Massenproteste des "Estallido Social" 2019/2020 mit der Erinnerung an die extreme Polizeigewalt: "Nos matan - Sie töten uns" (Foto: Ximena Galleguillos)
Szene aus der Zeit der Massenproteste des "Estallido Social" 2019/2020 mit der Erinnerung an die extreme Polizeigewalt: "Nos matan - Sie töten uns" (Foto: Ximena Galleguillos)

Wahlentscheidend

Beim ersten Verfassungs-Plebiszit am 4. September 2022 und der Niederlage der Unterstützerinnen und Unterstützer des damaligen fortschrittlichen Grundgesetz-Entwurfs spielten mit viel Geld orchestrierte professionelle fake news-Kampagnen in den sozialen Medien eine wesentliche Rolle. Wie ist das jetzt im Vorfeld der Abstimmung am 17. Dezember? 

Claudia Vera: Auch diesmal spielt die Musik in den sogenannten „sozialen Medien“: Diejenigen, die für den neuen Verfassungstext trommeln, behaupten: „Wir werden alle Flüchtlinge und Migranten aus dem Land werfen!“ Oder sehr beliebt ist auch das an den neuen argentinischen Kettensägen-Präsidenten Javier Milei erinnernde Versprechen, in Zukunft keine Steuern mehr zahlen zu müssen. Noch mehr Wirkung erzielt jedoch das Argument, mit der Zustimmung zum Verfassungsprojekt die Regierung von Gabriel Boric und die verhasste kritische Zivilgesellschaft zu bestrafen - und natürlich im Kampf gegen die Kriminalität zukünftig keinerlei Rücksicht mehr auf angebliche (rechtsstaatliche) Beschränkungen bei Polizeieinsätzen nehmen zu müssen.
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Projektion gegen eine Hauswand während der Zeit des "Estallido Soclal": Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Normalität das Problem ist" (Foto: Ximena Galleguillos)
Projektion gegen eine Hauswand während der Zeit des "Estallido Soclal": Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Normalität das Problem ist" (Foto: Ximena Galleguillos)
Projektion gegen eine Hauswand während der Zeit des "Estallido Soclal": Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Normalität das Problem ist" (Foto: Ximena Galleguillos)
Projektion gegen eine Hauswand während der Zeit des "Estallido Soclal": Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Normalität das Problem ist" (Foto: Ximena Galleguillos)

Das Recht der Kinder

Diese dystopischen Aussichten fügen sich ziemlich nahtlos in die demokratiefeindlichen, autoritären Prozesse in anderen Ländern auf dem amerikanischen Doppelkontinent ein. Wie ist es in einem solchen Umfeld möglich, im „Kleinen“, in der Arbeit auf der Ebene der Kindernothilfe-Partnerprojekte, den langen Atem zu bewahren und perspektivisch doch noch eine Chance für einen demokratischen und sozialen Neuanfang zu erarbeiten?

Claudia Vera: Das mit dem langen Atem ist ein gutes Stichwort! In einer der Umfragen der zurückliegenden Wochen wurden die Menschen gefragt, was für sie der Begriff „langfristig“ bedeutet? In den allermeisten Antworten reicht dieser Zeithorizont höchstens bis zu 90 Tagen. Was jenseits dieser drei Monate passiert, welche Hoffnungen und Perspektiven es für sie persönlich jenseits dieser Zeitmarke gibt, dazu konnten die Befragten nichts sagen. Ich halte diesen Befund für symptomatisch für das, was in dieser Gesellschaft vor sich geht. Aus unserer Sicht und nach Jahrzehnten des Engagements für Demokratie und Kinderrechte sehen wir als Fundación ANIDE zusammen mit den Kindernothilfe-Partnerorganisationen in Chile keinen anderen Weg, als den, der über Bildung - und zwar über eine Bildung mit Qualität - führt. Dem endemisch schlechten Zustand des in fünf Jahrzehnten heruntergewirtschafteten öffentlichen Schulsystems in diesem Land stellen die Projekte eine Alternative entgegen: Eine Bildungs- und Sozialarbeit mit Qualität!
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Die Kinder in Chile haben ein Recht darauf, dass die Kinderrechte als Wertesystem jeden Tag verteidigt und neu erstritten werden! (Foto: Kindernothilfe)
Die Kinder in Chile haben ein Recht darauf, dass die Kinderrechte als Wertesystem jeden Tag verteidigt und neu erstritten werden! (Foto: Kindernothilfe)
Die Kinder in Chile haben ein Recht darauf, dass die Kinderrechte als Wertesystem jeden Tag verteidigt und neu erstritten werden! (Foto: Kindernothilfe)
Die Kinder in Chile haben ein Recht darauf, dass die Kinderrechte als Wertesystem jeden Tag verteidigt und neu erstritten werden! (Foto: Kindernothilfe)
Was bedeutet das konkret?

Claudia Vera: Wir waren vor Kurzem in Concepción, zu einem längeren Projektbesuch im Projekt Agüita de la Perdiz. Dort konzentriert sich das Team darauf, neben den sozialen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen auch den Schulerfolg zu unterstützen. Um den Kindern zu helfen, die Defizite des prekären Schulunterrichts in diesem Armenviertelstadtteil auszugleichen, hat das Zentrum seine Öffnungszeiten angepasst, um jetzt quasi im Zwei-Schicht-Betrieb arbeiten zu können. Es gelang, weitere Freiwillige zu gewinnen, die mit den Kindern Hausaufgaben machen und den Unterrichtsstoff noch einmal neu bearbeiten. Kurzum: Es geht darum, Kindern mehr Selbstbewusstsein und Sicherheit zu geben – und die Freude am Lernen neu zu wecken! Natürlich müsste das Alles auch in der Schule geschehen. Tut es aber nicht. Um die Frage von gerade eben noch einmal in aller Deutlichkeit zu beantworten: Wir sind davon überzeugt, dass es nur dann eine Perspektive für eine demokratischere und sozialere Gesellschaft in Chile geben kann, wenn das Recht auf Bildung eingelöst wird – und die Kinderrechte als Wertesystem jeden Tag verteidigt und neu erstritten werden! Dafür leisten die Kindernothilfe-Projektpartner selbst bei extremem politischem und medialem Gegenwind einen wichtigen Beitrag. Und daran wird auch der Ausgang dieses erneuten Verfassungsplebiszit nichts ändern!
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Die Fragen stellte Jürgen Schübelin.

Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei Fundación ANIDE (Fundación de Beneficiencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida), der Kindernothilfe-Partner- und Koordinationsstruktur in Chile, bzw. der Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Darüber hinaus begleitet und betreut sie seit vielen Jahren die Lern- und Freiwilligendienstleistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste in Chile. Chile war 1969 das erste Land in Lateinamerika, in dem sich die Kindernothilfe engagierte.

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