Kindernothilfe Österreich. Kindern Zukunft schenken.

Haitis Jugend

In Haiti prägen Naturkatastrophen, politisches Chaos und Gewalt den Alltag. Für die 6,8 Millionen Haitianer*innen jünger als 25 Jahre (59% der Gesamtbevölkerung) ist das fatal. Im ständigen Kampf gegen Hunger und Ausbeutung gehen sie in eine mehr als ungewisse Zukunft. Was Aufwachsen für Kinder und Jugendliche in dem krisengebeutelten Karibikstaat bedeutet, schildert Lateinamerika-Experte Jürgen Schübelin.
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Chaos ist typisch für Haiti (Foto: Jürgen Schübelin)
Ein farbenprächtig bemalter, völlig überfüllter Bus in den Straßen von Port-au-Prince (Foto: Jürgen Schübelin)
Chaos ist typisch für Haiti (Foto: Jürgen Schübelin)
Ein farbenprächtig bemalter, völlig überfüllter Bus in den Straßen von Port-au-Prince (Foto: Jürgen Schübelin)

Schon bei der ersten Begegnung mit Haiti fällt auf: Das ist ein ganz junges Land! Ein Drittel der Menschen in Haiti ist zwischen 0 und 14 Jahren alt. Zum Vergleich: In Österreich macht die gleiche Altersgruppe nicht einmal 12 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus. Es hat mich immer berührt, dass im Kreyòl - der haitianischen Sprache – für den Begriff Kinder das Wort Timoun (Kleine Menschen) verwendet wird. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass Kinder und junge Menschen schon sehr früh mit der ganzen Brutalität des Erwachsenenlebens konfrontiert werden. Von Anfang an bedeutet das Aufwachsen in einem der ärmsten Länder der Welt, jeden Tag kämpfen zu müssen - aber gleichzeitig auch zu lernen, mit viel Energie und bewundernswerter Kreativität über die Runden zu kommen. 

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Kind sein in Haiti

Haiti hat inzwischen zwölf Millionen Einwohner. 6,8 Millionen – 57 Prozent – sind jünger als 25 Jahre. Mit Ausnahme einer ganz kleinen Gruppe von Kindern und Jugendlichen aus den wohlhabendsten Familien, erleben sie, in einem failed state, einem gescheiterten Staat, aufzuwachsen, der sie nicht schützt und ihnen ihre elementaren Rechte auf Zugang zu bezahlbarer Nahrung, Trinkwasser, Bildung, Gesundheit und menschenwürdigem Wohnen vorenthält.    

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Mädchen beim Wassertransport (Foto: Jürgen Schübelin)
Nicht nur nach dem verheerenden Beben 2010 war die Situation für Kinder sehr schwierig (Foto: Jürgen Schübelin)
Mädchen beim Wassertransport (Foto: Jürgen Schübelin)
Nicht nur nach dem verheerenden Beben 2010 war die Situation für Kinder sehr schwierig (Foto: Jürgen Schübelin)

Der Hunger ist groß, der Zugang zu Bildung gering

In dem kleinen Karibikstaat leben 75 und 85 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Knapp die Hälfte der Bevölkerung ist unterernährt. Der Anteil Hungernder unter Kindern und Jugendlichen liegt sogar noch höher. Seit der Corona-Pandemie und jetzt im Gefolge des weltweiten Anstiegs der Grundnahrungsmittelpreise haben die Hunger- und akuten Mangelernährungsprobleme noch einmal deutlich zugenommen.

Rund ein Drittel aller Kinder hat keine Chance auf einen Schulbesuch. Hier sind die Zahlen in den ländlichen und abgelegenen Departments besonders hoch. Eine Schulpflicht gibt es nur bis zum 11. Lebensjahr, also für die fünf Grundschulklassen. Obwohl die Verfassung eigentlich einen kostenlosen Schulbesuch garantiert, verlangen private Träger von den Eltern ganz oft Gebühren. Viele internationale Organisationen haben nach dem verheerenden Erdbeben von 2010, als Tausende Schulen zerstört wurden, große Anstrengungen unternommen, um in Bildungsinfrastruktur zu investieren. Schulen wurden wieder aufgebaut, neue entstanden – und es gab durchaus Erfolge, um die Zahl von Kindern, die am Unterricht teilnehmen, zu erhöhen. Die Gewalt im Land und der Terror der kriminellen Banden hat diesen positiven Trend umgekehrt. 2022 und auch im ersten Semester 2023 fiel der Unterricht über Monate hinweg aus.

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Schüler*innen aus dem Kindernothilfeprojekt in der Nähe von Marigot im Départment Sud-Est (Foto: Jürgen Schübelin)
Um Bildung muss in Haiti gekämpft werden: Hugue Augustin, Leiter des Kindernothilfe-Büros in Haiti, im Gespräch mit Schüler*innen, die einen Garten angelegt haben (Foto: Jürgen Schübelin)
Schüler*innen aus dem Kindernothilfeprojekt in der Nähe von Marigot im Départment Sud-Est (Foto: Jürgen Schübelin)
Um Bildung muss in Haiti gekämpft werden: Hugue Augustin, Leiter des Kindernothilfe-Büros in Haiti, im Gespräch mit Schüler*innen, die einen Garten angelegt haben (Foto: Jürgen Schübelin)

Die Menschen in Haiti überleben zum allergrößten Teil von dem, was wir informelle Arbeit nennen, oder sozialwissenschaftlich formuliert: von urbaner Subsistenzproduktion. Es gibt nur relativ wenige reguläre Arbeitsplätze in der Industrie, in der Landwirtschaft oder im Handel. Geschätzt drei Viertel der arbeitenden Menschen schlagen sich durch, indem sie irgendetwas verkaufen, produzieren, sammeln, reparieren, Dienstleistungen anbieten. Junge Menschen, selbst dann, wenn sie es geschafft haben, zur Schule zu gehen und bis zum bac (baccalauréat), also zur Matura, durchzuhalten, finden nur ganz schwer ein Auskommen, haben beruflich kaum eine Perspektive. Deshalb ist es für die kriminellen Gangs auch so einfach, Nachwuchs zu rekrutieren. Und deshalb versuchen jedes Jahr Zehntausende junge Haitianerinnen und Haitianer das Land zu verlassen, fallen dabei ganz oft Menschenschmugglern in die Hände, sind in den lateinamerikanischen Nachbarländern brutalstem Rassismus ausgesetzt – oder kommen bei dem Versuch, die US-Küste in hochseeuntauglichen Booten zu erreichen, ums Leben. Diejenigen, die es mit einem Visum in die USA oder nach Canada schaffen, weil dort bereits Verwandte leben, sind oft die Bestausgebildetsten. Immer wieder hört man in Haiti mit viel Bitterkeit: „Unser wichtigstes Exportprodukt sind junge Menschen!“ Trotzdem sichert ganz vielen Familien das, was diese Auswanderer überweisen, das Überleben.

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Ängste, Sorgen und Zukunftsperspektiven

Junge Menschen wünschen sich in Haiti, wie überall auf der Welt, eine Perspektive. Sie wollen mit ihren Familien ohne Angst leben, haben Hoffnungen, Pläne. Sie würden gerne zusammen mit Freundinnen und Freunden eine gute Zeit verbringen. Aber ganz viele sagen, dass sie sich wie in einem Gefängnis fühlen, ausgeliefert. Ohne Schutz. Manchmal hört man auch Sätze wie: „Die Welt hat uns vergessen.“
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Haitianisches Mädchen (Foto: Bernd Schlürmann)
Aufgeben gibt es nicht (Foto: Bernd Schlürmann)
Haitianisches Mädchen (Foto: Bernd Schlürmann)
Aufgeben gibt es nicht (Foto: Bernd Schlürmann)
Was trotz aller widrigen Umstände immer wieder Hoffnung macht, ist, mitzuerleben, was für unglaubliche Anstrengungen Eltern unternehmen, um ihren Kindern doch einen Schulbesuch zu ermöglichen. Zu den eindrucksvollsten Erfahrungen meiner Zeit in ein Haiti gehört ein Schulbauprojekt in einer abgelegenen, extrem schwer zugänglichen Bergregion im Süden der Stadt Carrefour, in dessen Rahmen Eltern aus fünf Gebirgsdörfern, die selbst nie einen einzigen Tag in ihrem Leben ein Klassenzimmer von innen gesehen haben, für ihre Kinder in einer Gemeinschaftsaktion fünf kleine Schulgebäude aus Holz errichteten – und seither dafür sorgen, dass für die Kinder und die Lehrer jeden Tag gekocht wird. Wenn die Vereinten Nationen mithelfen würden, die kriminellen Terrorbanden, die die Menschen in den Städten in Geiselhaft halten, zu entwaffnen und die internationalen Geldströme rund um das organisierte Verbrechen und die endemische Korruption im Land auszutrocknen, hätten auch Kinder und junge Menschen in Haiti wieder eine Perspektive.
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Von Jürgen Schübelin

Der Politikwissenschaftler arbeitete insgesamt 13 Jahre lang in Lateinamerika für verschiedene Entwicklungsorganisation, ein Jahr davon in Haiti. Danach verantwortete er über zwei Jahrzehnte als Kindernothilfe-Referatsleiter für Lateinamerika und die Karibik die Programm- und Projektarbeit auf dem Subkontinent. Seit Beginn seines Ruhestands im Februar 2022 unterstützt er die Kindernothilfe ehrenamtlich.

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